Aleppo ist eingekreist. Die Niederlage der Terroristen, die sich weiter in der nordsyrischen Stadt verschanzen, scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Um mögliche Verluste unter der Zivilbevölkerung zu minimieren, führen russische und syrische Militärs eine humanitäre Operation durch und rufen die Extremisten auf, die Waffen zu strecken. RT-Kolumnist Ilja Ogandschanow beschreibt die militärische Lage rund um die strategisch wichtige Metropole.
Ein Schlüssel zum Frieden
Die Bedeutung von Aleppo lässt sich kaum ermessen. Es handelt sich um die zweitgrößte Stadt der Arabischen Republik Syrien und somit ein wichtiges wirtschaftliches und geopolitisches Zentrum. Die Rückeroberung der Provinzhauptstadt kann ein Schlüssel zur Lösung des syrischen Konfliktes werden.
„Aleppo hat eine erstrangige Bedeutung für alle Konfliktparteien, weil es eines der wichtigsten Wirtschafts- und Handelszentren ist. Diese Stadt liegt auf der Kreuzung von Handelswegen und nimmt eine herausragende geopolitische Lage ein“, meint Wladimir Schapowalow, Direktor des Instituts für Politik, Recht und soziale Entwicklung an der Moskauer Staatlichen Humanitären Scholochow-Universität.
„Die Kontrolle über Aleppo ermöglicht es, nicht nur den ganzen Norden Syriens, sondern auch die Gebiete an der Grenze zur Türkei, die von Kurden bewohnten Gebiete und das Territorium des nordwestlichen Irak zu kontrollieren. Das ist das dominierende Zentrum der Region. Für Regierungstruppen und ihre Gegner, für die Türkei und Saudi-Arabien, aber auch für die USA ist die Kontrolle über Aleppo ein Schlüssel zur Kontrolle über das Territorium Syriens und die Anrainergebiete.“
Kein Wunder, dass die nordsyrische Metropole seit dem Anfang des Bürgerkrieges stark umkämpft ist.
„Das ist einer der wichtigsten strategischen Punkte. Das ist die wirtschaftliche Hauptstadt Syriens“, erklärt der Direktor des Forschungszentrums für die Länder des Nahen Ostens und Zentralasiens, Semjon Bagdassarow, gegenüber RT. „Die Rückeroberung von Aleppo wäre ein grandioser Sieg unserer Koalition.“
Ein Ende des Blutvergießens
Die syrische Armee will die Situation trotzdem nicht forcieren. Regierungstreue Truppen und Volksverteidigungseinheiten haben Aleppo völlig eingekreist und die Terroristen von allen Nachschubrouten abgeschnitten. Auf diese Weise ist ein Aufmarsch für eine Offensive und die darauffolgende Rückeroberung der Metropole gegeben. Während die Atempause in den Kampfhandlungen andauert, muss die Führung Syriens ihre Hauptaufgabe lösen: Wie kann der Konflikt mit so wenig Blut wie möglich beigelegt werden?
Zu diesem Zweck hat sich das Militär an die Bevölkerung und die Terroristen mit folgendem Appell gewandt:
„Um das Blutvergießen zu stoppen, geben wir allen bewaffneten Menschen im Umkreis des östlichen Aleppo die wirkliche Chance, den Konflikt beizulegen. Sie sollen die Waffen abgeben und in Aleppo bleiben. Sie dürfen aber auch die Waffen abgeben und die Stadt verlassen. Das Angebot gilt für alle. Wir appellieren an den gesunden Menschenverstand und schlagen allen vor, die nationalen Interessen zu wahren, um Sicherheit und Stabilität in Aleppo wiederherzustellen.“
Um mögliche Verluste unter der Bevölkerung zu minimieren und den Einwohnern Hilfe zu leisten, führt die syrische Regierung zusammen mit russischen Militärs eine humanitäre Operation durch. Die Zivilisten, aber auch Terroristen, die sich ergeben wollen, sollen humanitäre Korridore nutzen können, um die Stadt zu verlassen.
Die Bedeutung dieses humanitären Einsatzes kann auf der jetzigen Etappe der Kampfhandlungen gar nicht hoch genug veranschlagt werden.
„Aleppo ist eine Stadt, in der Hunderttausende von Menschen leben. Das Wichtigste in dieser Situation ist es, Menschenleben zu retten und die Einwohner mit Nahrungsmitteln und Medikamenten zu versorgen“, sagt Wladimir Schapowalow.
Das Kräfteverhältnis
Was passiert jetzt in Aleppo? Die Verteilung der Konfliktparteien ist recht unübersichtlich.
„Die Stadtmitte, das heißt der historische Stadtkern, wird von regierungstreuen Kräften und Volksverteidigungseinheiten kontrolliert“, umreißt Semjon Bagdassarow die Situation. „Die Kurden kontrollieren zwei Viertel. In der Stadt gibt es auch Einheiten der Hisbollah. Die Anordnung ihrer Gegner stellt ein Durcheinander aus unterschiedlichen Terrorgruppen dar. Meistenteils sind das die Kämpfer der Al-Nusra-Front. Im Norden ist es der IS.“
Aleppo zurückzuerobern wird alles andere als leicht sein. Erstens müssen die Aktivitäten der Belagerer vereint und koordiniert werden. Zweitens müssen die Schlupflöcher an der syrisch-türkischen Grenze dichtgemacht werden, damit die Extremisten keinen Nachschub mehr bekommen.
„Aleppo zurückzuerobern, ohne die Checkpoints an der syrisch-türkischen Grenze, insbesondere den Grenzübergang Azaz, zu sperren, ist eine äußerst schwierige Aufgabe“, sagt Bagdassarow gegenüber RT. „Azaz ist ein Tor in die Türkei. Durch diesen Übergang wurden eine Menge von Gütern, Munition und Waffen sowie Tausende von Kämpfern eingeschleust. Er gehört geschlossen. Dabei kann das nur im Bündnis mit dem Quasistaat gemacht werden, der im Nordosten gegründet wurde, und zwar mit der Föderation Nordsyrien, das heißt mit den syrischen Kurden.“
Die Kurdische Frage
Bei der Rückeroberung von Aleppo wird das Territorium, das von den syrischen Kurden kontrolliert wird, eine sehr wichtige Rolle spielen.
„Es geht darum, dass sich auf diesem Territorium mehr als 2.000 Angehörige der NATO befinden“, erklärt Semjon Bagdassarow gegenüber RT. „Die eine Hälfte sind US-amerikanische Spezialkräfte und Pioniertruppen, die andere – dänische, britische, französische und deutsche Truppen. Die Grenze ist nicht präzise markiert. Im Laufe von Kampfhandlungen könnten Konfliktparteien aneinander geraten.“
Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Kurden mehr als andere Kräfte an der Vernichtung von Terroristen interessiert sind, und daher als ein ernstzunehmender Verbündeter al-Assads fungieren.
„Die wichtigste Frage für die Kurden ist der Kampf gegen die Islamisten, die im Moment die Hauptgegner der Kurden in Bezug auf deren Autonomie sind“, meint Wladimir Schapowalow. „In diesem Kontext ist für die Kurden eine Allianz mit der Regierung Syriens wichtig, weil ausgerechnet al-Assad die Sicherheit der kurdischen Gebiete gewährleisten kann. Nicht nur vor islamischen Terroristen, sondern auch vor Ansprüchen von Seiten der Türkei.“
Die dritte Seite
Eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Beilegung des Konfliktes, oder umgekehrt bei dessen Eskalation, können die Vereinigten Staaten spielen.
„Die Vereinigten Staaten und ihre Partner können die Extremisten aufrufen, die Waffen niederzulegen und die Stadt zu verlassen, um ein Blutvergießen zu vereiteln“, glaubt Schapowalow.
Die Frage sei jedoch, inwiefern die USA daran interessiert sind. Zwei der vier größeren Terrormilizen, die in Syrien am Werk sind, werden von den Vereinigten Staaten unterstützt. Mit ihrer Hilfe hofft das Weiße Haus immer noch, al-Assad zu stürzen.
Auch die Türkei hat Aleppo im Auge.
„Die Türkei erhebt Anspruch auf den Nordwesten Syriens, darunter auf Aleppo. Für die Türkei ist das ein Leckerbissen“, befürchtet Bagdassarow. „Die Türken halten Aleppo historisch für ihre Stadt. Sie glauben, dass die dortige Bevölkerung sich mehr zur Türkei hingezogen fühlt. Aber das ist nicht so.“
Ein Blick in die Zukunft
Experten gehen einstimmig davon aus, dass die Rückeroberung von Aleppo den Krieg beenden kann.
„Die Befreiung von Aleppo bedeutet faktisch die Befreiung Syriens“, meint der Politologe Mais Kurbanow im Gespräch mit RT.
„Die Befreiung von Aleppo wird eine grandiose Wirkung haben“, unterstreicht Semjon Bagdassarow. „Vielleicht werden einige Gruppierungen die Waffen strecken.“
Die Rückeroberung von Aleppo wird für die Wiederherstellung des friedlichen Lebens in Syrien ausschlaggebend sein.
„Die Rückeroberung von Aleppo wird es der syrischen Regierung erlauben, ihre Kontrolle über den Großteil des syrischen Territoriums, über den am dichtesten besiedelten Teil, über den wirtschaftlich entwickeltsten Teil des Landes wiederherzustellen“, prognostiziert Wladimir Schapowalow. „Nach der Wiederherstellung der Kontrolle über Aleppo wird die Kontrolle über den restlichen Teil Syriens eine Frage weniger Wochen sein.“