Timo Kirez war für RT Deutsch bei der gestrigen Vorpremiere von Eric Bergkrauts Dokumentarfilm „Citizen Chodorkowski“ in Zürich. Eine Filmkritik über Politkitsch, zu geringe Distanz eines Regisseurs zu seinem Thema, das Ausblenden der problematischen Vergangenheit Chodorkowskis sowie ein kaum verklausulierter Aufruf „der Hoffnung des Westens“ zum gewaltsamen Regime Change in Russland.
von Timo Kirez, Zürich
Manchmal weiß man nicht, ob der Film schon angefangen hat, oder ob es der Werbeblock ist, der da immer noch läuft. So geschehen gestern Abend bei der Vorpremiere des Dokumentarfilms „Citizen Chodorkowski“ im Arthouse Kino Le Paris in Zürich. Die erste Lektion des Abends ist schnell gelernt: Man bleibt gerne unter sich. Anfragen für eine Drehgenehmigung im Kino wurden mit der Begründung, „Herr Bergkraut und Herr Chodorkowski möchten das nicht“, abgelehnt. Doch siehe da, zu Beginn der Veranstaltung stehen plötzlich zwei Männer mit Kameras im Saal und fotografieren/filmen was das Zeug hält. Und tatsächlich beginnt der Regisseur Eric Bergkraut die spätere Liveschaltung zu Michail Chodorkowski nach London mit den Worten: „Today nobody will disturb us, Michail.“ Aha, man stört also. Doch der Reihe nach.

Der vom ZDF und 3Sat co-produzierte Schweizer Film erzählt die Geschichte von Michail Chodorkowski ab dem Jahr 2003, also dem Jahr seiner Verurteilung in Russland, über seine Freilassung im Jahr 2013 bis in die heutige Zeit hinein. Was zunächst mit einem Briefwechsel zwischen dem Regisseur Eric Bergkraut und Chodorkowski beginnt, entwickelt sich im Laufe des Films, und der reellen Ereignisse, mehr und mehr zu einer persönlichen Beziehung zwischen dem Regisseur und seinem Protagonisten. Bis hin zu einem exklusiven Interview mit Chodorkowski im Studio von Bergkraut. Der Film zeigt Bilder von Chodorkowski während und vor seiner Gerichtsverhandlung, sowie später nach seiner Freilassung. In verschiedenen Sequenzen kommen jeweils sein Vater Boris Chodorkowski und seine 2014 verstorbene Mutter Marina Chodorkowski zu Wort, dazu seine Anwältin Karinna Moskalenko und ehemalige und aktuelle Wegbegleiter wie zum Beispiel der ehemalige Yukos-Manager Leonid Newslin. Zwischen Rückblenden und Gegenschnitten in die heutige Zeit wird versucht, die Ereignisse, unter anderem auch die Vorgänge rund um Yukos, für den Zuschauer in ungefähr 88 Minuten Laufzeit nachvollziehbar zu machen. So weit, so gut.
Der Film ist handwerklich gut gemacht, bietet aber künstlerisch gesehen keine Neuerungen. Das wäre noch zu verschmerzen. Aber das große Manko dieses Films, wie übrigens der gesamten Veranstaltung gestern Abend, ist ein anderes. Es ist, um es freundlich zu umschreiben, die sehr geringe Distanz des Regisseurs zu seinem Thema, die selbst mit der Allegorie „von der Tapete zur Wand“ nur unzureichend beschrieben ist. Obwohl man ja mittlerweile einiges gewohnt ist, was die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen von Ost und West bei sensiblen Themen angeht, bot der gestrige Abend doch, exakt 100 Jahre nach der Gründung des Dadaismus in Zürich, eine neue Dimension in Sachen Absurdität, nur diesmal leider weniger unterhaltsam.
Noch bevor der Film begann, wurde der Regisseur Eric Bergkraut, der übrigens schon zwei andere kritische Filme zum Thema Russland, genauer gesagt Tschetschenien und Anna Politkovskaya, gemacht hat, um einen Kommentar gebeten. Und was er sagte, ist interessant. Er sprach davon „dass er kein Ideologe“ sei, „dass wir in gefährlichen Zeiten leben,“ „dass er eigentlich aus Zufall auf Russland gekommen sei, als er damals in Zürich drei junge Tschetschenen kennengelernt hat“, so als ob die in Zürich an jeder Ecke stehen, und „dass er Brücken bauen möchte.“ Was das für Brücken sind, sagte er allerdings nicht.

Aber das wird einem nach dem Film auch so schnell klar, denn so viel sei verraten – es geht hier scheinbar nicht um zivile Brücken. Der Regisseur erinnert in diesem Augenblick ein wenig an Biedermann aus dem gleichnamigen Stück von Max Frisch, oder aber auch an Inspektor Columbo, der ja immer nur so tut, als ob er nicht weiß, was er tut, aber eigentlich viel schlauer ist, als wir alle zusammen. Nein, diese gespielte Naivität, respektive Neutralität, wirkt ein wenig bemüht. Denn als der Film nach dem Vorgeplänkel dann endlich beginnt, wird relativ schnell klar in welche Richtung das Ganze abzielt.
Mit viel Softpower und Zartschmelz soll hier jemand aufgebaut, in Stellung, gebracht werden. Man kann fast schon von Politkitsch sprechen. Michail Chodorowski soll Russland retten. Und am besten gleich die ganze Welt mit. Dazu werden unbequeme Fragen im Film, und auch später in der Live-Zuschaltung von Chodorkowski aus London, gar nicht erst gestellt. Wirklich nicht eine einzige. In zwei lapidaren Sätzen wird die mehr als problematische Vergangenheit von Chodorkowski abgehandelt. Der eine stammt aus einem der Briefe von Bergkraut an Chodorkowski, in dem er schreibt „die Staatsanwaltschaft wirft Ihnen vor, mehr Öl geklaut zu haben, als sie je produziert haben“. Das kann man noch lustig finden, aber dann heißt es in einem anderen Brief sinngemäß „und ich warte übrigens noch heute darauf, dass sie mehr aus ihrer bewegten Vergangenheit erzählen.“
Das ist alles. Keine Recherchen zum Prozess, zu den Vorwürfen, nichts. Auch nichts zu der Tatsache, dass gegen Chodorkowski seit Dezember 2015 in Russland ein Haftbefehl wegen Mordes vorliegt. Auch wird nicht erwähnt, dass am 20. April 2016 das Urteil des Internationalen Schiedsgerichtshofes in Den Haag, welches 2014 Russland zu einer Schadensersatzzahlung von 50 Milliarden Dollar bezüglich der „Zerschlagung des Yukos-Konzerns“ verurteilt hatte, in der Berufung wieder einkassiert wurde. Warum auch. Denn, glaubt man dem Film, handelt es sich natürlich von Anfang an um eine politisch motivierte Verurteilung Chodorkowskis. Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im September 2011 die Verurteilung explizit als nicht politisch motiviert eingestuft hat, wen interessiert’s?

Auf jeden Fall nicht Herrn Bergkraut. Das stört ja nur das Feindbild. Und das Feindbild ist natürlich Wladimir Putin. Putin hier, Putin da. Es gibt eine sehr erhellende Szene im Film. Der Regisseur und die Anwältin von Chodorkowski, Karinna Moskalenko, sitzen zusammen in einem Auto, anscheinend unterwegs zum Gefängnis von Chodorkowski. Die Anwältin beklagt sich in der Szene im Hinblick auf das Schicksal ihres Mandanten sinngemäß „Wer hat ein Interesse daran, einen Menschen so zu foltern, so zu quälen?“, und als sie keine Antwort auf ihre eigene Frage gibt, hören wir aus dem Hintergrund die Stimme des Regisseurs: „Putin! Der Präsident!“
Wahrscheinlich noch mal eine Erinnerung für alle, die es noch nicht begriffen hatten. Man nennt so etwas auch die „Vorschlaghammer-Methode.“ Nun hat man sich ja auch mittlerweile daran gewöhnt, dass Putin einfach an allem Schuld ist auf der Welt. Sollte die Deutsche Nationalmannschaft am Sonntag gegen Italien ausscheiden, wird es vermutlich auch Putin gewesen sein. Aber die Verdammung Putins auf der einen, und die Verklärung Chodorowkis auf der anderen Seite, nimmt in diesem Film geradezu groteske Züge an. Man kann eigentlich getrost von einem Schwarz-Weiß-Film sprechen, obwohl er in Farbe gedreht ist.
Während also Putin als Darth Vader der Neuzeit, seine Regierung als „totalitäres Regime“ und Russland als Bananenrepublik gebrandmarkt wird, singen die Geigen beim Porträt Chodorowskis in Moll. Der im Gefängnis gestählte und geläuterte Chodorowski. Selbst ein Priester muss herhalten, um die neue Gottesfurcht Chodorowskis zu bezeugen. Auch wenn er nicht genau sagen kann, um welchen Gott es sich handelt. Gott eben. Der neue Chodorowski, der kein Geschäftsmann mehr sein will, der einfach leben möchte, wie das russische Volk.

Dass sein neuer Lebenssitz London zu den teuersten Städten der Welt gehört – geschenkt. Der Menschenrechtler Chodorowski, der für ein besseres Russland die Welt bereist. Der mit Tränen in den Augen auf dem Maidan in der Ukraine steht und von einem „anderen Russland, das es gibt“ erzählt. Und so weiter, und so fort. Je länger der Film geht, desto schlimmer wird es. Wenn man schon eine Dauerwerbesendung macht, dann sollte man sie auch gleich so deklarieren. Eric Bergkraut tut dem Genre Dokumentarfilm, das immerhin so nachdenkliche und brillante Geister wie Chris Marker kennt, mit seinem Film wahrlich keinen Gefallen. Man spürt, hier wähnt sich einer auf der richtigen Seite der Geschichte und lässt, Widersprüche hin oder her, mal ordentlich die Sau raus.
Doch der eigentliche Höhepunkt des Abends sollte noch folgen. Gleich nach dem Film ging es ruckzuck in die Live-Schaltung mit Chodorowski in London. Assistiert vom Regisseur und einem Übersetzer, stellte ein Journalist des Tages-Anzeigers Fragen an Michail Chodorowski. Nachdem die Höflichkeiten im Sinne von ‚wie geht es Ihnen, wie haben Sie die Haft überstanden, was hat Sie aufrecht gehalten‘ und dergleichen erledigt waren, was ja eigentlich auch schon im Film alles beantwortet wurde, ging es zur Sache. Nämlich die Zukunft Russlands. Und die ist für Michael Chodorowski glasklar. Es geht nur noch mit einer Revolution, denn, so wortwörtlich:
„Mit demokratischen Mitteln ist in Russland im Moment nichts zu machen.“
Mit anderen Worten, nur ein gewaltsamer Regime-Change kann Russland retten.
Und wenn dies erfolgt sei, so Michail Chodorowski, wäre er bereit, an einer neuen Regierung mitzuwirken. Jetzt muss man allerdings zwei Dinge wissen. Erstens, Michail Chodorowski hat in Russland, genauer gesagt in der Bevölkerung, ungefähr so viel Unterstützung wie der gerade zurückgetretene englische Nationaltrainer Roy Hodgson, also gar keinen. Zweitens gibt es in der Schweiz ein Gesetz zum Schutz der Neutralität (Artikel 123), in dem nach Artikel 299 Ziff. 2 auch der Aufruf im Inland zu einem gewaltsamen Umsturz im Ausland als Tatbestand der Neutralitätsverletzung angesehen werden kann.
Lassen Sie diese zwei Punkte bitte einmal kurz sacken. Also, frei nach Goethe und seinem Erlkönig, „und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt.“ Das ist sie also, die große Hoffnung des Westens – ein verkappter Putschist voller Leichen im Keller. Aber, und dies ist vielleicht die letzte Lektion des Abends: Einige können sich eben größere Keller leisten als andere.
RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.